Sunday 15 March 2015

Joachim Löw: "Daraus lerne auch ich", 22.10.2012

Joachim Löw hat sich mit ein paar Tagen Abstand und nach auskurierter Grippe zum 4:4 in der WM-Qualifikation gegen Schweden geäußert. Im Gespräch mit dem Sport-Informations-Dienst (SID) nimmt der Bundestrainer zur Debatte um die Führungsspieler, zu eigenen Fehlern und zu seiner Motivation Stellung.

Frage: Joachim Löw, können Sie die Sorgen und Zweifel nach dem 4:4 gegen Schweden mit einigem Abstand nachempfinden?

Joachim Löw: Diese Debatten kann ich natürlich nachempfinden. Auch bei uns saß der Stachel tief. Wir konnten uns auch nicht vorstellen, dass wir nach so einem grandiosen Spiel einen 4:0-Vorsprung noch aus der Hand geben. Wir waren alle fassungslos.

Frage: Haben Sie die Enttäuschung schon einigermaßen verarbeitet?

Löw: Der Stachel sitzt jetzt nicht mehr so tief, weil wir natürlich darüber gesprochen haben und Lösungen finden müssen. Die Erkenntnis ist: Dieses unglaubliche Offensivpotenzial führt fast zwangsläufig auch zu Schwächen. Und diese Schwächen sind nicht erst jetzt, sondern schon im gesamten Jahr in Erscheinung getreten.

Frage: Sie haben nach dem EM-Aus von kleineren Korrekturen gesprochen, die nötig seien. Sehen Sie inzwischen Bedarf für größere Veränderungen?

Löw: Die aktuelle Situation hilft uns, die Weichen jetzt nochmals richtig zu stellen. Insofern hat es vielleicht auch etwas Positives. Das ist mir lieber, als wenn wir im Herbst 2013 feststellen müssen, dass wir in so eine negative Situation rutschen.

Frage: Was kann die Mannschaft aus so einem Spiel wie in Berlin mitnehmen?

Löw: Grundsätzlich wird die Mannschaft an so einer Situation auch wachsen. Lektionen, die auf dem Platz so eindringlich sind, daraus kann man auch wachsen. Das wird uns jetzt nicht mehr so passieren, da bin ich mir sicher. Bei der EM war es festzustellen, dass wir bis auf das Italien-Spiel eine gute Balance hatten. Gegen Österreich haben wir schon defensive Schwächen gehabt und mit Glück gewonnen. In diesem Maße wie in den letzten 30 Minuten gegen Schweden sind sie noch nicht zutage getreten.

Frage: Sehen Sie einen Rückschritt in der Entwicklung?

Löw: In einer Entwicklungsphase gibt es immer mal Rückschläge. Absolut. Wir haben ein unglaubliches Kreativ- und Offensivpotenzial wie vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr. Auf der einen Seite sollten wir darüber glücklich sein und es als große Chance begreifen, dass wir unsere gesamte Philosophie nach diesen Spielern ausrichten können. Aber diese Gegentore und Defensivschwächen kann auch ich nicht akzeptieren - und will ich auch nicht akzeptieren.

Frage: Was werden Sie ändern?

Löw: In den vergangenen beiden Jahre haben wir große Schritte gemacht im fußballerischen Bereich. Es hat zwar nicht zur Perfektion und zu einem Titel gereicht, aber man hat gesehen, dass wir fußballerisch mit den Besten mithalten können. Das halte ich schon für sehr positiv. Wichtig wird sein, dass wir an unserem Defensivverhalten weiter arbeiten.

Frage: Hat sich Ihr Vertrauen in die Spieler verändert?

Löw: Ich stehe zu dieser Generation mit all den Stärken und Schwächen, die wir im Moment haben. Das Potenzial ist hervorragend. Wie wir 60 Minuten gegen Schweden gespielt haben, das hat mich schon sehr zufrieden gestellt. Aber wir müssen natürlich auch an den Schwächen arbeiten, keine Frage. Es gab verletzungsbedingte Ausfälle von Spielern, die uns in so einem Spiel sicher gut getan hätten. Sami Khedira war verletzt, Mats Hummels, die beiden Benders. Es kommen junge Spieler nach, die gut sind, die sich gut entwickeln. Aber personell gesehen, haben wir alle Möglichkeiten und können uns das auch für die Zukunft ein Stück weit offen lassen.

Frage: Wie stellen Sie sich Veränderungen vor?

Löw: Da erwarte ich - da muss ich mir auch an die eigene Nase fassen -, dass wir an Lösungen arbeiten, dass wir nicht mehr in solche Situationen kommen. Vielleicht müssen wir einen Automatismus entwickeln: Was ist zu tun, wenn wir ein Spiel dominieren und dann einen Anschlusstreffer kassieren? Da haben wir in den letzten Spielen in der Tat gewisse Schwächen gezeigt. Wir haben den Gegner das eine oder andere Mal völlig unnötig wieder ins Spiel gebracht, obwohl wir so dominant waren.

Frage: Wie können solche Automatismen aussehen?

Löw: Wenn das Spiel zu kippen droht, dann müssen wir von außen, aber auch von innen Schlüsselpunkte hart einfordern: hinter den Ball, Grundordnung nicht verlassen, einzelne Aktionen wieder gewinnen, die Zweikämpfe wieder gewinnen - und das zum richtigen Zeitpunkt. Das müssen wir lernen.

Frage: Was hat im Rückblick gegen Schweden nicht funktioniert?

Löw: Unser Spiel ist aus den Fugen geraten, weil wir nur noch lange Bälle gespielt haben. Wir haben zum Torhüter zurückgespielt, wir hatten keine Ballsicherheit mehr. So hat es begonnen. Unsere Spieler haben sich im Gefühl des sicheren Sieges so eine zugespitzte Situation nicht mehr vorstellen können. Wir haben auch nicht geglaubt, dass sich Schweden noch in diesem Maße wehrt. Und dann haben wir zu untauglichen Mitteln gegriffen, um das Ruder noch herumzureißen. Wenn man aus so einer Euphorie kommt und eine sportliche Katastrophe verhindern will, dann muss man auch mal die einfachen Dinge wieder tun, die uns stark machen.

Frage: Auch an Sie gab es den Vorwurf, nicht reagiert zu haben. Können Sie das nachvollziehen?

Löw: Natürlich, absolut. Ich konnte auch nicht glauben, dass das Spiel kippt. Ich hätte in der Schlussphase mit einer Auswechslung ein Signal an die Mannschaft senden und noch etwas stoppen können. So etwas habe ich in 20 Jahren auch noch nicht erlebt. Daraus lerne auch ich. Mein Plan war zuerst, ballsichere Spieler zu bringen, um wieder die richtige spielerische Qualität zu haben und für Entlastung zu sorgen. Ich wollte die Schweden vom eigenen Tor weghalten. Aber das ist nicht aufgegangen. Also wäre es besser gewesen, den einen oder anderen Spieler für die Defensive einzuwechseln, der die Räume zumachen kann. Das ist natürlich auch der Vorwurf an mich.

Frage: Wie sehen Sie die Diskussionen um Ihre Führungsspieler?

Löw: Wir haben genügend Spieler, die eine Dominanz ausstrahlen. Das hat man in der Vergangenheit gesehen, das hat man auch jetzt wieder gesehen, in Irland und 60 Minuten gegen Schweden. Wir haben Spieler, die im Zweifelsfall auch gut dagegenhalten können. In der Situation haben sie das weniger umgesetzt. Das war mir schon bewusst. Daran gilt es, mit diesen Spielern auch zu arbeiten - dass wir genau dann, wenn die spielerische Ausrichtung nicht mehr so stimmt, auch ein positives, aggressives, dominantes Auftreten unter Druck zeigen. Man darf sich dann nicht so zurückziehen. Wir hätten diesem Druck standhalten können. Wir alle. Das war in diesen 30 Minuten nicht der Fall.

Frage: Nervt Sie diese Diskussion?

Löw: Diese Debatte über Führungsspieler und flache Hierarchien gibt es ja jetzt schon länger. Wenn man definiert, was einen Führungsspieler auszeichnet, dann wird man sehen, dass wir gute Führungsspieler haben. Da gehört ein großes Können und eine Akzeptanz bei den Mitspielern dazu. Das haben unsere Führungsspieler. Wenn man meint, dass uns derjenige fehlt, der dazwischenhaut, auf Freund und Feind einschlägt, um etwas zu bewegen - den haben wir nicht. Darüber bin ich aber auch nicht böse, weil solche Spielertypen auch mal viel kaputt machen können. Da ist dann der Schaden größer. Aber klar, wir müssen daran arbeiten, dass wir uns in bestimmten Situationen genau so verhalten wie in den ersten 60 Minuten. Aber ich vertraue diesen Spielern auch, weil sie dieses Können haben und auch die Akzeptanz bei den Mitspielern.

Frage: Werden Sie Ihren Führungsstil ändern?

Löw: Wir haben unsere Forderungen und Erwartungen immer deutlich genannt. Die Spieler wissen, was wir Trainer erwarten. Ich denke, den Weg kann man klar erkennen, sonst kann man auch nicht gegen Irland 90 und gegen Schweden 60 Minuten diesen Fußball spielen. Unser Umgang mit den Spielern ist von Respekt geprägt. Ich halte nichts von einem Ton wie auf dem Kasernenhof. Das entspricht auch nicht meiner Persönlichkeit. Ich will die Spieler mit einbeziehen. Wir setzen auf Kommunikation, natürlich geben aber wir die Richtung vor. Das haben wir die letzten Jahre auch kompromisslos gemacht, wenn es um die sportlichen Dinge ging. Daher bin ich von unserem Weg weiterhin überzeugt, den wir weiter gehen werden, ohne blind für Verbesserungen zu sein. Festzuhalten bleibt: Diese Mannschaft hat sich trotz allem hervorragend entwickelt.

Frage: Wie ist es um Ihre Kraft und Motivation bestellt?

Löw: Was die Kraft betrifft, ist es so, dass sich ein Trainer nach einem Turnier mit der Enttäuschung aus einer Niederlage und einer emotionalen Vollbelastung von zwei Monaten natürlich immer fragt: Was gibt es an neuen Impulsen, an neuen Ideen? Das ist eine unglaublich spannende Aufgabe mit diesen hervorragenden Spielern mit charakterlicher Klasse. Deswegen freue ich mich wahnsinnig, dass ich mit solchen Spielern arbeiten kann.

Frage: Nationalteammanager Oliver Bierhoff hat gemeint, dass sich auch die Teamführung hinterfragen müsse.

Löw: Das machen wir ja ständig. Unseren Entscheidungen gehen immer intensive Diskussionen voraus. Das hat nichts mit einem schlechten Spiel zu tun. Wir hinterfragen uns ständig, nach jedem Spiel. Wir machen Workshops, in denen wir ganz kontrovers diskutieren und uns hinterfragen. Mit manchen Dingen, die so dargestellt werden, bin ich nicht immer einverstanden. Dann heißt es: Ist der Bundestrainer beratungsresistent oder kann er keine Fehler zugeben? Wer mich kennt, weiß, dass ich zu meinen Fehlern stehe oder zu einer nicht aufgegangenen Strategie.

Frage: Wie gehen Sie mit den vielen Ratschlägen von außen um?

Löw: Selbst wenn die Vorschläge in eine völlig andere Richtung gehen, dann setzen wir uns auch damit intern auseinander und besprechen diese Ratschläge in unserem Trainerteam. Wir gehen nicht über alles hinweg. Ich finde es gut, wenn man es mir persönlich sagt und nicht über die Medien, aber selbst dann setzen wir uns mit manchen Dingen auseinander, greifen sie auf und prüfen sie selbstkritisch. Natürlich sind wir nicht frei Selbstkritik. Ist dieser Weg richtig? Was und wo können wir noch verbessern? Wir alle sind nicht fehlerfrei. Das wissen die Spieler, das wissen die Trainer. Ich persönlich bin immer gesprächsbereit.

Frage: Am 14. November steigt in Amsterdam das Länderspiel gegen die Niederlande. Wie sehen Sie den Stellenwert?

Löw: Erst mal ist es wichtig, dass die Mannschaft - auch mit den Spielern, die verletzt waren - zum Abschluss des Jahres zusammenkommt und man über das abgelaufene Jahr und das kommende spricht. Man muss natürlich auch noch einmal das 4:4 analysieren. Es muss auch das Bestreben sein, in diesem Prestigeduell ein gutes Spiel zu absolvieren, so wie es gegen Irland und 60 Minuten gegen Schweden war.

22 October 2012
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