Gegen Belgien begann die EM-Qualifikation, gegen Belgien endete sie - jeweils standesgemäß mit einem Sieg. Und dazwischen? Acht weitere Erfolge, macht 30 Punkte aus zehn Spielen, Rekord. Das deutsche Team hat Historisches geleistet und seine Rolle als einer der Mitfavoriten für die EM 2012 in Polen und der Ukraine gefestigt.
Verantwortlich für diese Erfolge ist Joachim Löw. Im DFB.de-Gespräch der Woche mit Redakteur Steffen Lüdeke redet der Bundestrainer über die Entwicklung seiner Mannschaft, die nächsten Schritte im EM-Fahrplan und seine Definition von Erfolg.
DFB.de: Herr Löw, Gratulation zum Rekord. Zehn Siege, zehn Spiele, was bedeutet Ihnen diese Bestmarke?
Joachim Löw: Nichts. Natürlich ist es mir lieber, man verbindet meinen Namen mit Siegen als mit Niederlagen. Aber ob runde Geburtstage oder irgendwelche Jubiläen – ich habe zu solchen statistischen Daten keinen Bezug. Rein sportlich hat diese Rekordmarke natürlich trotzdem einen gewissen Stellenwert. Einmal haben wir uns damit bei unseren Gegnern im Blick auf die EURO 2012 sicher noch mehr Respekt verschafft. Und außerdem ist die Serie gut für das Selbstbewusstsein unserer Spieler.
DFB.de: Zehn Spiele in der EM-Qualifikation: In welchem dieser Spiele hat Ihnen Ihre Mannschaft am besten gefallen?
Löw: Das kann ich so nicht sagen. Wir haben insgesamt eine starke, ja souveräne EM-Qualifikation gespielt. Das Wichtigste war vielleicht, dass wir nach Südafrika so schnell den Schritt vom Turnierrhythmus, mit einem längeren gemeinsamen Aufenthalt, zum Qualifikationsrhythmus, mit sporadischen Treffen für einzelne Spiele, geschafft haben. Wichtig als Weichenstellung für den positiven Verlauf der EM-Qualifikation waren der gelungene Start in Brüssel und der überzeugende Erfolg gegen die Türkei in Berlin.
DFB.de: Wen haben Sie vor Beginn der Qualifikation als größte Konkurrenten gesehen?
Löw: Die Türkei, Belgien und Österreich. Von den Siegen gegen diese Teams hatte jeder etwas Besonderes. Auch beim Abschluss der Qualifikation hat mich meine Mannschaft beeindruckt. Ohne gewinnen zu müssen in Istanbul und zuletzt in Düsseldorf, die beiden Begegnungen hochkonzentriert anzugehen und insgesamt ungefährdet erfolgreich zu bestreiten, zeugt von Qualität. Ein starker Auftritt war außerdem der Sieg gegen Österreich in Gelsenkirchen, mit dem wir frühzeitig das EM-Ticket lösen konnten. In guter Erinnerung habe ich auch den Sieg in Wien und den anschließenden Erfolg in Baku gegen Aserbaidschan, als das Team nach einer langen Saison noch einmal die letzten Kräfte mobilisiert hat.
DFB.de: Gibt es einen oder mehrere Spieler in Ihrer Mannschaft, der Sie im Laufe der Qualifikation am meisten überrascht haben?
Löw: Entscheidend ist, dass wir uns nach der positiven WM 2010 als Team weiterentwickelt haben. Spielerisch, kämpferisch, taktisch. Ein wesentlicher Aspekt in den vergangenen Monaten war, dass wir erneut junge Spieler eingebaut und damit den positiven Konkurrenzkampf nochmals erhöht haben. Wer Großes erreichen will, muss alle Positionen doppelt mit starken Leuten besetzen können. Und wir können das.
DFB.de: Sie haben kürzlich erklärt, dass es praktisch keine Stammspieler mehr gebe. Von diesem Begriff im herkömmlichen Sinne solle man sich verabschieden, mit elf Stammspielern könne man heutzutage angesichts der Belastung der Spieler keine Saison oder kein großes Turnier mehr bestreiten. Gerade die beiden letzten Länderspiele haben das wieder gezeigt, oder?
Löw: Erst war Mesut Özil verletzt und Toni Kroos krank, dann waren Bastian Schweinsteiger, Lukas Podolski und Jérôme Boateng angeschlagen. Oder im Sturm: Gegen Österreich in Gelsenkirchen fehlte Mario Gomez, dann zweimal Miro Klose. Wo früher geklagt wurde, dass wir keine Alternativen haben, können wir heute schnell reagieren und variieren.
DFB.de: Ihre Beispiele zielen auf Mittelfeld und Angriff. Gilt dies genauso für die Abwehr?
Löw: Ja. In allen Mannschaftsteilen ist es wichtig für mich, Variationsmöglichkeiten zu haben. Ungeachtet dessen, gibt es bei uns selbstverständlich Führungsspieler, die bei ihren Kollegen durch die Art und Weise ihres Auftretens hohen Respekt genießen. Allen voran Kapitän Philipp Lahm und sein Stellvertreter Bastian Schweinsteiger, aber auch Miro Klose und Per Mertesacker. Erfreulich ist, dass auch hier weitere Ansprechpartner für die Jüngeren nachrücken. Manuel Neuer als unsere Nummer eins, Mesut Özil und Sami Khedira oder Mario Gomez sind ebenso wie Lukas Podolski mittlerweile ebenfalls wichtige Ansprechpartner für Talente und Kräfte wie Mario Götze oder André Schürrle.
DFB.de: Sie haben gesagt, dass Sie überrascht waren, dass die Abstände in der deutschen EM-Qualifikationsgruppe so groß waren. Waren Sie auch überrascht, wie gut Ihr Team ist? Oder darüber, welche Schwierigkeiten die anderen Mannschaften hatten, ihr Potenzial zu zeigen?
Löw: Wir haben davon profitiert, dass sich unsere Gegner gegenseitig die Punkte abgenommen haben. Zudem haben wir in jedem Spiel so viel geleistet, dass wir verdient als Sieger vom Platz gegangen sind. Die Mischung und Einstellung in unserem Team stimmen einfach. Ich freue mich, wenn ich von den Spielern höre, dass sie sehr gerne bei uns sind und dass ihnen die Tage bei der Nationalmannschaft immer viel Spaß machen.
DFB.de: Welche Nation hat Sie innerhalb der EM-Qualifikation am meisten überrascht?
Löw: Große Überraschungen sind ausgeblieben. Von den etablierten Fußballnationen haben sich alle durchgesetzt. Überraschend ist für mich lediglich, dass Portugal in die Play-off-Spiele muss. Ansonsten hat die EM-Qualifikation bestätigt, dass Spanien, die Niederlande und wir am konstantesten auf hohem Niveau spielen.
DFB.de: Können Sie sich überhaupt noch erinnern, wann Sie das letzte Mal so richtig enttäuscht von Ihrer Mannschaft waren?
Löw: Es gibt in den Spielen immer wieder Situationen oder Phasen, mit denen ich nicht zufrieden bin. Dann kann ich am Spielfeldrand durchaus auch emotional werden. Das war auch in Istanbul und Düsseldorf oder zuvor in Gelsenkirchen so. Aber im Fußball passieren Fehler, das gehört dazu. Wir analysieren diese Situationen und sprechen sie klar an, damit die Mannschaft aus ihren Fehlern lernt. Aber noch mal: Die EM-Qualifikation ist super gelaufen, und alle im Kader haben bewiesen, dass sie gewillt sind, sich weiterzuentwickeln und ständig an sich zu arbeiten. Für mich als Trainer ist diese Konstellation ideal.
DFB.de: Das deutsche Team ist für Millionen Fans und viele Experten der erklärte Titelfavorit. Wie gehen Sie mit diesem Druck um, und was würde Ihnen der Titel bei der EURO persönlich bedeuten?
Löw: Unendlich viel. Rekorde kommen und gehen, Titel bleiben. Ist doch klar, dass wir damit in die Geschichtsbücher eingehen würden. Doch soweit sind wir noch lange nicht. Schon nach den Siegen gegen Brasilien und Österreich habe ich mehrfach darauf hingewiesen, dass Selbstzufriedenheit oder Überheblichkeit nicht angebracht sind. Sicher sind Spanien, die Niederlande und wir die Favoriten. Doch ich habe es nach dem Belgien-Spiel ja deutlich gesagt: Ich möchte jetzt nicht nur auf den Welt-und Europameister oder den Vizeweltmeister schauen, auch andere etablierte Fußballnationen wie England, Frankreich und Italien gehören zum Kandidatenkreis. Ein Turnier ist nie ein Selbstläufer. Es gibt viele Unwägbarkeiten: Eine Standardsituation oder eine umstrittene Schiedsrichterentscheidung – und du bist ausgeschieden. Trotzdem bleibt unser großer Traum, am 1. Juli 2012 nach dem Finale in Kiew den EM-Pokal in Händen zu halten.
DFB.de: Welchen Stellenwert hätte dies für Sie im Vergleich zu einem WM-Titel?
Löw: Eine Europameisterschaft ist in vielen Bereichen schwieriger als eine Weltmeisterschaft. Von den Top 12 der UEFA-Rangliste haben sich zehn für die Endrunde qualifiziert, und die beiden restlichen können über die Play-offs noch das Ticket lösen. Außerdem gibt es bei einer EM mit 16 Teams, die sich alle von ihrer Leistungsstärke her nicht so riesig unterscheiden, keine Gelegenheit zum Einspielen – es geht vom ersten Spiel an um alles. Außerdem ist die WM jetzt nicht das Thema, wir konzentrieren uns voll auf auf die EURO 2012 und darauf, dass Deutschland nach 16 Jahren wieder einen Titel gewinnt.
DFB.de: Mit Oliver Bierhoff und Andreas Köpke gehören zwei Europameister von 1996 zu Ihrem Trainerteam. Was erzählen die beiden von der EM in England?
Löw: Nicht viel. Es bringt doch nichts, zurückzuschauen und in Nostalgie zu schwelgen. Hansi Flick, Andreas Köpke, Oliver Bierhoff und ich sind ein Team, das in der Gegenwart lebt und für die Zukunft arbeitet. So haben wir in den vergangenen Jahren einiges bewegt und erreicht. Aber es muss ständig weitergehen, unsere Ziele waren und sind klar definiert: Wir wollten eine Veränderung der Fußballkultur im deutschen Team. Das haben wir geschafft. Und mit attraktivem Fußball wollen wir nun den EM-Titel gewinnen.
DFB.de: Wie sehen die nächsten Schritte auf dem Weg dorthin aus?
Löw: Jetzt warten wir die EM-Auslosung am 2. Dezember in Kiew ab, damit wir alles Weitere, unter anderem auch die Verpflichtung der letzten beiden Länderspielgegner, im Detail planen können. Wichtig ist, dass Oliver Bierhoff und das Büro Nationalmannschaft bei der Buchung unserer EM-Vorbereitungsquartiere auf Sardinien und in Südfrankreich ganze Arbeit geleistet haben. So können wir uns optimal vorbereiten.
DFB.de: Wie viel Prozent am Erfolg eines Turniers macht eine gelungene Vorbereitung aus?
Löw: Es ist schwer, dies zu beziffern. Aber klar ist, dass nur eine gelungene Vorbereitung zum Titel führt. Eine unserer Stärken war immer, dass es uns gelungen ist, uns in den Wochen der EM-Vorbereitung noch einmal entscheidend zu steigern und die taktischen Feinheiten für das Turnier einzustudieren. Da müssen alle Spieler topfit sein. Wichtig ist ihr Leistungsstand im Mai 2012 und nicht, was sie im Herbst 2011 gebracht haben.
DFB.de: Wie schwer wird diesmal die Nominierung des EM-Kaders?
Löw: Das wird diesmal ganz einfach. Früher habe ich mir oft viele Gedanken gemacht, weil ich bei einigen Positionen nicht vollends überzeugt war. Für die EM 2012 haben wir dieses Problem nicht. Wir haben einen großen Kreis von etwa 30 Spielern, die unsere Ansprüche und Vorstellungen erfüllen. Deshalb wird es einige Härtefälle geben. Und mir fällt es dann auch schwer, diesen Spielern die schlechten Nachrichten zu überbringen.
DFB.de: Aber um die Qualität in Ihrem Kader machen Sie sich keine Sorgen?
Löw: Nein, das Reservoir an guten Fußballern ist groß. Und vielleicht kommen bis zur EM sogar noch neue Spieler hinzu. Wir werden in den kommenden Wochen und Monaten die Bundesliga und die Champions League weiterhin intensiv beobachten. Insbesondere für die jungen Spieler von Meister Dortmund sind die Auftritte in der Königsklasse eine gute Chance, weiter internationale Erfahrung zu sammeln und sich zu profilieren.
DFB.de: Für die Nationalmannschaft geht es im November weiter mit den Länderspielen gegen die Ukraine und die Niederlande. Aus welchen Gründen wurden gerade diese Gegner ausgesucht? Und was erwarten Sie in diesen Partien von Ihrer Mannschaft?
Löw: Wir wollen ein erfolgreiches Jahr positiv abschließen. Ebenso wie das Aufeinandertreffen mit Frankreich im Februar 2012 in Bremen sind diese Begegnungen Test-, aber keine Freundschaftsspiele. Dennoch werde ich sicher einigen jungen Spielern eine Chance geben. Es ist wichtig, dass wir nach unserem Spiel in Danzig gegen Polen auch einmal in Kiew zu Gast sind, um damit Erfahrungen im Lande beider Gastgeber gesammelt zu haben. Über die Aufeinandertreffen mit den Niederländern und den Franzosen muss man gar nicht viel sagen. Das sind zwei spielstarke Gegner und von jeher prestigeträchtige Nachbarschaftsduelle. Ich bin sicher, dass die Zuschauer ihren Stadionbesuch nicht bereuen und in Hamburg und Bremen zwei interessante Spiele erleben werden.
31 October 2014
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