DFB.de: Herr Löw, welche Bedeutung hat Weihnachten für Sie?
Joachim Löw: Weihnachten bedeutet für mich Ruhe, Familie, Tradition, gutes Essen.
DFB.de: Gehört zu den Weihnachtstraditionen auch der Kirchenbesuch?
Löw: An Heiligabend? Ja! Wir gehen an Weihnachten gerne mit der Familie in die Kirche.
DFB.de: Wie ruhig kann es bei Ihnen an Weihnachten sein? Das Haus ist doch ziemlich voll, oder?
Löw: Der Großteil der Familie ist beisammen. Für mich bedeutet dieser private Kreis auch Ruhe und Zufriedenheit.
DFB.de: Die Nationalmannschaft können Sie über Weihnachten völlig ausblenden? Oder müssen Sie Ihrer Familie erklären, wie es im Team gerade aussieht?
Löw: Das Thema ist an Weihnachten außen vor.
DFB.de: Und wenn Sie in die Kirche gehen?
Löw: Ich habe es fast überall erlebt, dass Leute mich ansprechen oder ein Autogramm von mir wollen. Aber in der Kirche ist das noch nicht passiert. (lacht)
DFB.de: Zu Weihnachten gehört die Bescherung. Kümmern Sie sich selber um die Geschenke?
Löw: Bei uns gibt es keine Geschenke.
DFB.de: Grundsätzlich nicht?
Löw: Die Kinder bekommen etwas. Aber unter uns Erwachsenen schenken wir schon seit einigen Jahren an Weihnachten nichts mehr.
DFB.de: Weil Ihnen nichts mehr einfällt?
Löw: Wir halten es für sinnvoller, etwas für gute Zwecke zu spenden und damit Menschen zu helfen, die wirklich hilfsbedürftig sind. Geschenke kann man im Übrigen das ganze Jahr über machen. Das muss nicht an Weihnachten sein.
DFB.de: Sie sind ein werteorientierter Mensch und leben Werte auch vor. Sind Werte auch ein Auswahlkriterium für die Spieler in Ihrer Mannschaft?
Löw: Ja. Als Trainer fragt man sich immer, wie sich die Spieler innerhalb des Teams verhalten. Und natürlich gibt es im Mannschaftsgefüge gewisse Werte, die zu beachten sind. Toleranz, Disziplin, Verlässlichkeit. Wichtig ist ein vernünftiger Umgang miteinander in der gesamten Gruppe. Wie respektvoll sind die Spieler zu den Leuten, die für Sie arbeiten? Ärzte, Physios, Presseleute oder Zeugwarte, also die vielen Personen, die zum Team hinter dem Team gehören. All das spielt eine wichtige Rolle, um ein gutes Arbeitsklima zu haben. Wenn man bedenkt, dass wir häufig im Ausland unterwegs sind und dabei Deutschland und die Deutschen vertreten, ist mir außerdem wichtig, dass die Spieler einen guten Eindruck bei den jeweiligen Gastgebern hinterlassen. Wir wollen uns Respekt verdienen - nicht nur aufgrund unserer Spielweise.
DFB.de: Können Sie dies ins Verhältnis zu den sportlichen Fähigkeiten eines Spielers setzen. Wie wichtig ist es, dass die Spieler die von Ihnen vorgegeben Werte akzeptieren?
Löw: Natürlich ist in erster Linie relevant, dass der Spieler auf dem Platz umsetzen kann, was wir uns von ihm wünschen. Aber wenn es in Richtung Turnier geht, fragen wir uns im Trainerteam auch verstärkt: Welche Spieler sind in der Lage, über so einen langen Zeitpunkt, der Mannschaft Energie zu geben. Welche Spieler sind frusttolerant, wenn sie mal nicht spielen? Welche Spieler halten dem Konkurrenzdruck stand? Welche Spieler sind getrieben von zu viel Egoismus oder zu viel Neid? All diese Fragen sind wichtig und müssen von uns vor dem Turnier beantwortet sein. Wenn 60 bis 70 Menschen zwei Monate lang auf engem Raum zusammen sind, spielen diese Dinge eine große Rolle.
DFB.de: Würden Sie demnach sagen, das Teamfähigkeit kein Auswahlkriterium, aber durchaus ein K.o.-Kriterium ist?
Löw: Bisher haben die Spieler die meisten Werte verinnerlicht. Als Trainer macht man sich jedoch Gedanken, wie viel Egoismus ein Team verträgt.
DFB.de: Und? Wie viel Egoisten verträgt ein Team?
Löw: Das hängt von der individuellen Klasse ab.
DFB.de: Ein Egoist muss also ein richtig guter Fußballer sein?
Löw: Selbstverständlich. Man muss als Trainer aber auch erkennen, wann überwiegt der Egoismus und wo sind die Grenzen. Der Teamgedanke steht für mich über allem.
DFB.de: Wie viele Egoisten gibt es in der deutschen Nationalmannschaft?
Löw: Wir haben keinen ausgesprochenen Egoisten dabei. Bei uns gibt es keinen Spieler, der seine gesamte Konzentration nur danach ausrichtet, selber möglichst gut dazustehen. Wir haben ein extrem gutes Team, auch weil wir extrem gute Teamspieler in unseren Reihen haben. All unsere Akteure bringen sich mit ihren individuellen Fähigkeiten für den Erfolg der gesamten Mannschaft ein.
DFB.de: Ist es Zufall, dass sich unter den besten Fußballern Deutschlands kein ausgesprochener Egoist befindet?
Löw: Die Spieler, die es bis zu uns an die Spitze schaffen, sind alle nicht nur fußballerisch sehr gut ausgebildet, sie sind auch ansonsten sehr gut auf die Anforderungen ihrer Karriere vorbereitet. Sie sind selbstbewusst und zielorientiert, sie verstehen aber auch, was es heißt, Teil einer Mannschaft zu sein und sich innerhalb eines Teams zu bewegen. Dabei sind die Spieler verantwortungsbewusst und kritikfähig, haben aber auch eine eigene Meinung und sind in der Lage, diese zu äußern.
DFB.de: Sie beschreiben gerade die Anforderungen an einen Führungsspieler. Welche Bedeutung hat dieser Begriff für Sie?
Löw: Führungsspieler werden immer benötigt. Ohne Führungsspieler kann man keinen Erfolg haben. Doch die Führungsspieler von heute sind anders als die von früher. Spieler wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Miro Klose und Per Mertesacker übernehmen Verantwortung. Auf dem Platz – aber auch neben dem Platz. Selbst junge Spieler wie Manuel Neuer oder Sami Khedira wollen Verantwortung übertragen bekommen und sind in der Lage, zu überblicken, wie eine Gruppe insgesamt funktioniert. Und sie kommunizieren. Das macht für mich die Qualität von Führungsspielern aus.
DFB.de: Was muss ein Spieler noch mitbringen, um Führungsspieler zu sein?
Löw: Führungsspieler sind in erster Linie erfolgshungrig und haben Sehnsucht nach Siegen. Diese Spieler wollen immer besser werden, sie geben sich mit dem Erreichten nicht zufrieden. Deswegen zeichnet Führungsspieler auch aus, dass sie ein hohes Maß an Bescheidenheit mitbringen.
DFB.de: Kann ein Profifußballer überhaupt bescheiden sein?
Löw: Ja. Für mich ist Ausdruck von Bescheidenheit, dass sich die Spieler darauf konzentrieren, die eigene Leistung zu optimieren und Dinge, die dabei hinderlich sind, wegzulassen. Bescheidenheit drückt sich auch in einer gewissen Respekt gegenüber den eigenen Fans und dem Publikum insgesamt aus.
DFB.de: Ein großes Thema im Jahr 2011 war der Druck im Profifußball. Wie gehen Sie persönlich mit dem Druck um, der auf dem Bundestrainer lastet?
Löw: Mir macht meine Aufgabe viel Spaß, das ist die Grundvoraussetzung. Bei wichtigen Spielen ist die Freude größer als der auf mir lastende Druck. Ich freue mich, wenn wir gegen Spanien spielen. Ich freue mich, wenn wir gegen England spielen. Oder gegen Argentinien. Oder gegen Portugal. Oder gegen die Niederlande. Ich würde aber lügen, wenn ich sagen würde, dass ich den Druck nicht spüre. Ich spüre ihn später.
DFB.de: Und was hilft Ihnen dann dabei, mit dem Druck umzugehen?
Löw: Mir hilft, dass ich im privaten Bereich eine gewisse Distanz zum Fußball habe. Deswegen versuche ich auch, mein privates Umfeld abzuschotten so gut es geht. Das ist meine Oase, hier kann und will ich Ruhe und Entspannung finden.
DFB.de: Was hilft Ihnen noch?
Löw: Menschen, die mir Energie geben.
DFB.de: Wer gehört dazu?
Löw: Meine engsten Mitarbeiter, vor allem natürlich meine Kollegen aus dem Trainerteam. Wir kennen die Stärken und Schwächen der anderen. Wichtig ist auch, dass ich gelernt habe, zu delegieren und Verantwortung zu übertragen. Ich habe lange geglaubt, dass ich als Trainer alles können und verantworten muss. Mittlerweile weiß ich, dass es in den Teilbereichen Experten gibt, die in ihren Gebieten viel besser sind als ich.
DFB.de: Die Schattenseiten des Profifußballs wurden in diesem Jahr durch den Selbstmord des walisischen Nationaltrainers Gary Speed und den Suidzid-Versuch des deutschen Schiedsrichters Babak Rafati deutlich. Wie betroffen haben Sie diese Fälle gemacht?
Löw: Sie machen mich nachdenklich. Gerade am Ende eines Jahres, wenn die ganzen Emotionen abfallen, merkt man den Energieverlust. Wenn man beispielsweise so emotionale Momente erlebt, wie wir bei der WM 2010, dann ist es klar, dass es irgendwann einen Gefühlseinbruch gibt. Es besteht die Gefahr, dass man sein Gleichgewicht verliert. Wenn ein Trainer wie Ralf Rangnick, der nicht mehr schläft und nicht mehr isst, daraus die Konsequenzen zieht, kann ich das verstehen. Es ist ein Zeichen von Stärke, wenn man sich und der Öffentlichkeit eingestehen kann, dass man nicht mehr in der Lage ist, der Mannschaft und der Gruppe Energie zu geben. Denn ein Trainer muss immer vorneweg gehen.
DFB.de: Umso wichtiger ist, die Speicher aufzufüllen und abschalten zu können. Wie gut können Sie das?
Löw: Wichtig ist unter anderem ein gutes Zeitmanagement. Ich habe früher beispielsweise den Fehler gemacht, manchmal zehn Stunden im Büro zu sitzen. Das mache ich heute nicht mehr. Mittlerweile handhabe ich es so, dass ich, wenn ich zuhause bin, vier, fünf Stunden wirklich konzentriert arbeite, und mich nicht ablenken lasse. Und wenn ich diese vier, fünf Stunden abgeschlossen habe, dann gehe ich zum Beispiel einen Kaffee trinken oder Fußball spielen.
DFB.de: Zum Abschluss noch eine Frage zur Europameisterschaft 2012. Wie groß ist der Druck, nach all den guten Ergebnissen des Jahres 2011, als einer der Topfavoriten in das Turnier zu gehen?
Löw: Ich kann mich da nur wiederholen: Wir sind einer der Favoriten, aber nicht der Favorit. Spanien, die Niederlande, Frankreich, England, Italien, Portugal und vielleicht die beiden Gastgeber werden eine gute Rolle spielen und haben ebenfalls große Ambitionen. Es wird ein spannendes und hochkarätiges Turnier, ich freue mich darauf riesig. Wir haben ein junges Team, dass sehr ehrgeizig und auf einem guten Weg ist. Ich spüre bei allen eine große Sehnsucht nach einem Titel. Zu bedenken ist sicher auch, dass die positive Entwicklung unseres Teams über 2012 hinaus anhalten wird. Wir wollen uns spielerisch immer weiter verbessern, und hoffen deshalb auch, dass wir uns bei der EURO 2012 nochmals steigern können.
24 December 2011
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